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Inhalt:

  • Wir ziehen zur Mutter der Gnade oder Von der Flucht aus dem irdischen Jammertal ins himmlische Jerusalem
  • Die Sprache hat wie der Wein einen Körper. Über die Leidenschaft des Lesens
  • Gegen den Strich kämmem – Lyrik heute

Wir ziehen zur Mutter der Gnade

oder

Von der Flucht aus dem irdischen Jammertal ins himmlische Jerusalem.

Wallfahrt!

Altes, mächtiges Bild für unser Dasein auf Erden.

Gleichnis insbesondere für den Christenmenschen,

der Pilger ist;

das heißt ein verbanntes Kind Evas,

 stolpernd über die Fluren und Äcker der Fremde.

Carl Amery, Die Wallfahrer

In meiner Heimat in der Oststeiermark wird am Florianisonntag nach Auffen ‘gebetet’. Voran das Vortragskreuz, strebt ein Häuflein Menschen, den Rosenkranz in Händen, dem Kirchlein zur Schmerzhaften Mutter zu. Die Waltersdorfer wiederum pilgern an Auffen vorbei nach Maria Fieberbründl, die Schönauer gehen auf den Kulm, die Kaindorfer auf den Pöllauberg und die Pinzgauer sollen es besonders merkwürdig treiben auf ihrer Wallfahrt nach St. Johann, wie das populäre Spottlied zu berichten weiß. Ein Netz sich überschneidender Wallfahrtswege überzieht unser Land. Fast jede Gemeinde, jede Pfarre hat ihre traditionelle Wallfahrt, die in letzter Zeit eingeführten ‘Fatimawallfahrten’ an jedem 13. stehen hier weniger im Blickpunkt, das sind eher prozessionsähnliche Abendveranstaltungen, die ihrer Kürze wegen kaum dem herkömmlichen Wallfahrtsbegriff entsprechen.

Wallfahrten werden oft in Notzeiten gelobt oder als Dank für eine wunderbare Fügung versprochen und die späteren Generationen führen sie mehr oder weniger getreulich aus.

Jede Wallfahrt hat ein Heiligtum als Ziel, nicht eine beliebige Kirche. Kirchen werden dort gebaut, wo sie gebraucht werden, Heiligtümer können nicht einfach erbaut werden, sie entstehen an ‘durchgescheuerten Stellen’: wo der Himmel besonders deutlich durchscheint. In den Ursprungslegenden der Wallfahrtsorte wird oft von einer Hierophanie berichtet, d.h. ein göttliches Wesen zeigte sich den Menschen an diesem Ort, ein Kultbild, eine heilende Quelle udgl wird entdeckt oder der Ort ist mit einer heiligen Person verbunden, die Reliquien von heiligen Frauen oder Männern sind Ziel von Pilgerfahrten, oft gibt es eine über das Christentum hinausreichende Kulttradition, in unseren Landen wurden Marienkirchen über alte Isisheiligtümer gebaut, nicht zufällig ist unser anheimelndstes Kultbild die Madonna mit dem Kind, Isis mit dem Osiris auf dem Schoß ist unzweifelhaft das Vorbild dafür.

Wallfahrten werden aus vielerlei Gründen unternommen, für gedeihliches Wachstum in Haus und Hof, Gesundheit, um Buße zu tun, oder um einen Ehemann zu finden: da rutscht manch ein Mädchen bei der Wallfahrt nach Mariazell zum Gaudium der Pilgerschar auch heute noch über den Heiratsstein, wenn es auch noch so beteuert, nicht daran zu glauben, vollzieht es doch diesen alten Fruchtbarkeitsritus. In Fieberbründl benetzen sich die Menschen die Augen, das Wasser soll Augenleiden lindern, in Rom ist die große rechte Zehe des Apostels Petrus plattgeküsst, in Tschenstochau wird der Madonna eine Siesta eingeräumt, zu Mittag geht der Vorhang vor dem Bild der schwarzen Madonna zu, in Santiago di Compostela stecken Pilgersfrau und -mann ihre Hände in die Rachen der beiden Löwen am Fuße der Statue des hl. Jakobus zum Zeichen der endgültigen Gewissheit, am Ziel zu sein. Für die kleinen Anliegen tuts unser Leonhard auch, sagen sie Murauer, für die großen Nöte muß man schon zum Leonhard in Tamsweg wallfahren, so der Mesner dieses Lungauer Heiligtums.

In der griechisch/römischen Religion war die via sacra der Inbegriff des Pilgerweges. Von Samos/Pythagorio zum Heraion, von Milet nach Didyma, um nur zwei solcher eindrucksvoller und heute noch nachvollziehbarer Wege zu nennen, zogen die Menschen, gesäumt von Grabdenkmälern und Statuen der Götter und Heroen, über die heilige Straße zum Wohnsitz der Göttin oder des Gottes. Und, man wird es zugestehen müssen, der Unterschied in Einstellung und Motivation der Pilgerschaft dürfte zwischen gestern und heute nicht gravierend verschieden sein.

Die größten Pilgerscharen ziehen zum Ganges und nach Benares, in Gruppen oder einzeln ziehen sie singend dahin; denn wenn sie singen, bleiben sie auch inmitten der Menge mit Gott verbunden. Das Singen des Gottesnamens ist eine Kontemplationsform wie das Jesusgebet, jeder Schritt, jeder Atemzug wird mit einem Gottesnamen verbunden. Für Hindus ist das Lebem insgesamt eine Wallfahrt. Sie wollen ‘sehen’: nicht im Sinne des sight-seeings, sie wollen Benares sehen, weil es der thirtha ist, der Übergangsort, wo sich die Götter zeigen.

Dreimal im Jahr sollte der jüdische Mann nach Jerusalem hinauf pilgern, an Pesach, Schabuot und Sukkot, Freudenfeste allesamt. „Nächstes Jahr in Jerusalem“ ist über die Zeiten hinweg und durch die zionistische Bewegung insbesonders zum Sehnsuchtsgruß des jüdischen Volkes geworden. Aber auch die Christen stimmen aus anderen Motiven in diesen Ruf ein, die Völkerwallfahrt zum Berg Zion wurde zu einem diese zwei Religionen umgreifenden Symbol der Heimkunft aus der Zerstreuung.

Der Weg nach Mekka ist im Islam die fünfte Pflicht, einmal im Leben ist derhadjj zu absolvieren und jeder Muslim darf fortan den Titel al-hadjj seinem Namen beifügen, was Karl May-Leserinnen und -Leser ohnehin wissen.

An der Wiege des Christentums stehen die Magier unter einem guten Stern als die ersten Wallfahrer, als die Vorbilder für alle religiös Suchenden

Das Christentum verbreitete sich durch Wanderprediger, es ist eine Religion zu Fuß, in alle Welt ziehen die Missionare und bringen die Botschaft bis an die Grenzen der Erde. Von Anfang an war daher der Wunsch der Christen, jene Orte aufzusuchen, an denen Jesus gelebt und gewirkt hat, es war der Wunsch, ins Zentrum des Geschehens zu reisen, dorthin, wo sich die die Wunder ereignet haben. Spätestens mit dem Reisebericht der PilgerinEgeria (vermutlich im 4. Jahrhundert) ist neben der Feier des Kirchenjahres, in dem das Leben Jesu in einem Jahrlauf ‘nachgeahmt’ wird, der Besuch der Heiligen Stätten eine weitere Möglichkeit, sich an Ort und Stelle die Ereignisse zu vergegenwärtigen. Die Wallfahrt wird dadurch aber auch zu einer Art Grenzerfahrung: das bisherige Leben wird verlassen, durch die Mühen und Beschwernisse der Reise, einer Leidens- und Passionserfahrung, hindurch gelangt man zur Auferstehung.

Neben Jerusalem als dem ersten und wichtigsten Pilgerziel und Rom als Begräbnisstätte der Apostel Petrus und Paulus wird ‘am Ende der Welt’, im Nordwesten Spaniens, Santiago de Compostela der Wallfahrtsort des Mittelalters. Jakobus der Ältere der Sohn des Zebedäus der um 44 als erster der Apostel den Märtyrertod erlitten hat, soll der Legende nach in Spanien gepredigt haben, sein Leichnam kam später auf wundersame Weise nach Santiago. Jakobus wird zum Inbegriff des Wanderers, die Wallfahrt nach Santiago wird im Mittelalter das Äqivalent zum hadjj und Jakobus als der metamauros, der Maurentöter, wird zum Inbild des Kampfes gegen den Islam.

Der Entschluss zu einer Wallfahrt passiert zuerst einmal im Kopf – meist lange Zeit vor dem tatsächlichen Aufbruch ist es ein Traum. Heutzutage ist es zumeist nicht Gottes direkte Stimme wie bei Abraham; ihm befiehlt der Ruf Gottes in ein Land zu ziehen das er ihm zeigen werde (Gen 12,1). Auch Engel, die einem wie Josef im Traum befehlen, sind selten geworden.

Wallende, wie der altertümlich Ausdruck lautet, tragen die Sehnsüchte des ganzen Lebens und alle unerfüllten Kindheitsträume im Rucksack mit, für weiteres Gepäck bleibt meist nicht viel Platz.

Pilger, das Wort kommt vom lateinischen peregrinus – der Fremde, der aus seiner Heimat Aufgebrochene. Im Mittelalter war diese Pilgerschaft nicht immer freiwillig, gar manchem wurde als Buße für seine Verfehlungen die Wallfahrt nach Compostela oder einem anderen Heiligtum ‘aufgebrummt’ und dementsprechend war wohl auch die Einstellung solcher Menschen, die nicht aus edlen Motiven, sondern gezwungenermaßen unterwegs waren. Pilgersein bedeutete immer Not und Entbehrungen auf unwirtlichen Straßen aushalten. Diese mittelalterlichen Wallfahrten haben mit den in den letzten Jahren wieder groß in Mode gekommenen Fußwallfahrten nach Santiago, Mariazell usw. nicht mehr viel gemeinsam. Ein gut ausgebautes, markiertes Wegenetz, Herbergen aller Preisklassen, leichte, zweckmäßige Kleidung machen Fußreisen zwar nicht zum Vergnügen, es ist immer noch ein entbehrungsreiches Unterfangen, aber Gefahr für Leib und Leben besteht kaum noch. Vor allem haben sich die Motive geändert: für viele ist es ein Ausstieg aus dem beruflichen Trott, eine ‘Auszeit’, in der eine Besinnung möglich ist, für andere wieder kann eine längere Wallfahrt auch eine Flucht vor ungelösten Problemen sein; Heute ist sie sehr oft eine Art Selbsterfahrungstrip, ein Test der körperlichen Leistungsfähigkeit, viele Gründe spielen beim Entschluss, eine solche Reise anzutreten, mit. So sind sog. Orte der Kraft (Berge, Wüsten, Quellen, Bäume, Wunder der Natur insgesamt aber auch Bauwerke älterer Kulturen), an denen viele Menschen ihre Verbundenheit mit dem ganzen Kosmos besonders deutlich spüren, Ausdruck dieses religiösen Suchens. Die Kirchen sind ja längst nicht mehr die alleinigen Vertreter und Hüter von Religion. Wenn Wallfahrt so etwas wie das Pilgern zum Glaubenszentrum ist, dann sind die verschiedenen Wallfahrtsziele Signale dafür, dass die Menschen Kontakt zum Wunderbaren, zum Heiligen nicht nur dort suchen, wo Priester und Religionsvertreter hinweisen. Das war übrigens auch in der Vergangenheit so, oben wurde bereits darauf hingewiesen: die alten vorchristlichen Heiligtümer ließen sich die Menschen nicht aus den Herzen reissen. ‘Eingefleischt’ waren die Wege dorthin, es blieb oft nichts übrig, als diese alten Kultorte ‘zu taufen’ um nicht deswegen mit den Gläubigen in Konflikt zu geraten. So sind Wallfahrtsorte auch immer ein Ausdruck einer ‘Volkstheologie’, die sich in bestimmten Glaubensfragen selbständig gemacht hat. Der Großteil der christlichen Wallfahrtsorte sind der Madonna geweiht. Das ist wohl auch ein stiller Protest gegen ausschließlich männliche Gottesbilder im Christentum, die uralte Sehnsucht nach der Großen Mutter und Göttin wird mit Maria besetzt und das kirchliche Lehramt kann wettern und protestieren soviel es will.

Wallfahrt hat auch zu tun mit einer negativen Sicht der Welt, die als Jammertal erlebt wird. Wenn Pilgerinnen und Pilger nach oft monatelanger Reise die porta gloriosa in Santiago durchschreiten, treten sie in ein Abbild des himmlischen Jerusalem, wenn die Wallfahrer in Vierzehnheiligen in Franken vor dem Eintritt um die Basilika ziehen, so tun sie dies aus einem Gefühl der notwendigen allerletzten Bereitung der Herzen für die Begegnung mit dem Heiligen, von dem Heilung und Heil in besonderem Maße erwartet werden.

Der Wunderglaube gehört zum Wallfahrtswesen wie das Andenken und das Mitbringsel, Wallfahrtsorte sind für Puristen und Ästheten ein Greuel: Kitsch und Aberglaube geben sich ein dauerndes Stelldichein, manche Eiferer wünschen sich den Jesus mit einer siebenschwänzigen Geißel herbei, mit der er die Händler vertreiben möge. Was aber wäre ein Wallfahrtsort ohne diese Stände und Märkte? Abgesehen von der Tatsache, dass heutzutage kein Fußballverein, kein Popkonzert, kein Museum ohne diese Art der Verhökerung von Andenken auskommt: es wird nur anders genannt: wer denkt bei merchandising an Wallfahrtsandenken? Es gehört zu den unausrottbaren Bedürfnissen der Menschen, eine Erinnerung, eine Reliquie vom Gnadenort mitzubringen. Damit im Alltag ein wenig vom Glanz des Heiligtums erinnert werden kann.

Die Formen der Wallfahrt ändern sich, Bus und Flugzeug haben Transportaufgaben übernommen, Bußetun ist in den Hintergrund gerückt, die Selbsterfahrung hat sich den verschiedensten anderen Motiven zugesellt, aus der Einkehr ist ein religiöser event geworden, weil aber die Menschen innerhalb einiger Jahrtausende sich nicht gravierend ändern, stehen wir in einer ehrfurchtsgebietenden Wallfahrtstradition, die zu den großen Kulturleistungen der Menschen gehört.

(1998) Wir ziehen zur Mutter der Gnade. Von der Flucht aus dem Jammertal ins himmlische Jerusalem in: Der Vierzeiler, Zeitschrift für Musik, Kultur und Volksleben, 18. Jg., Nr. 2, Juni 1998, 9-11;

Die Sprache hat wie der Wein einen Körper.

Über die Leidenschaft des Lesens.

Eine männlich-aphoristische Annäherung

Sprache der Liebenden

sei die Sprache des Landes

F.Hölderlin

Das Lesen ist etwas Mysteriöses, die Augen folgen den kleinen Buchstaben, ein Fuchs, der schnüffelnd einer Fährte  nachspürt. Stäbchen waren die Buchstaben einst, mit aufgemalten oder eingeritzten Zeichen. Hübsch ist die volksetymologische Erklärung von der Buche als dem ursprünglichen Material, auf dem geschrieben worden sei, die ein Gang durch die Wälder der Verliebten immer wieder zu bestätigen scheint:

in dich

bin ich eingeritzt

herz und pfeil

die narben

blindenschrift auf deiner haut

erzählen von mir

du bibel

voller erinnerungen

ans paradies

Zerflossen ist die Schrift im Laufe der Jahre und mitgewachsen in die Höhe, wie die Zeit vergeht, die nachdenklichen Seufzer, die Versprechungen, die Schwüre, was ist aus ihnen geworden, die Umarmungen, die Küsse und das Wort ist Fleisch geworden.

Lesen entlarvt verwirrt beanstandet entblößt beargwöhnt verniedlicht beäugt entehrt verpfuscht bedroht entfesselt verplempert beeindruckt entflammt befingert verrenkt entfremdet täuscht befummelt beglückt verroht entgottet beheimatet verschandelt enthüllt behelligt schwängert verscheucht enthusiasmiert verschleiert bekehrt entkleidet verschmutzt belästigt entkräftet verschult beleidigt elektrisiert verschüttet foltert beleuchtet heilt verdirbt bemäntelt beflügelt verklärt tötet besamt vergrault betäubt erregt verkrampft bescheißt verkuppelt entlaust beschummelt beschützt beschwingt verteufelt bespringt erhitzt lähmt vermasselt entledigt vermiest entleibt vermint entlockt vermurt entmündigt vernagelt entmythologisiert vernebelt nährt verhext infiziert verdummt läutert verwundet fanatisiert verhütet dämonisiert vergewaltigt entnazifiziert enträtselt vergrätzt begeistert verbrennt zerstört verzaubert. Auch bilden soll es. Wie langweilig.

Die Briefleserin von Jan Vermeer van Delft (1632 – 1675)

Eine Schwangere liest einen Brief. Genauer das Bild zu beschreiben, ist hier nicht der Ort. Sie, die einen Mann erkannte und von ihm erkannt wurde, liest, so darf wohl angenommen werden, den Brief des in der Ferne weilenden geliebten Mannes. Im Lesen ist er anwesend, sie hört ihn sprechen, lachen, spürt ganz körperlich seine Sehnsucht nach ihr, erinnert sein ungeduldiges Drängen hinter den liebevollen Worten, dem Auftrag, dem er nachkommen mußte, flucht er, zählt die Tage der Trennung, flüstert ihr Intimes ins Ohr, er fragt nach ihrem Wohle, besorgt wohl ein wenig und ergeht sich in Vermutungen, ob es ein Bub oder ein Mädchen werde. Geliebt, geborgen, ganz Frau ist sie in diesen Minuten des Lesens, seine Andeutungen wärmen sie, seine fahrige Schrift erscheint ihr liebenswert wie die unbeholfene Zärtlichkeit seiner Hände, die sie so sehr herbeisehnt:

ich schreibe dich

in mein herz

lausche den Geschichten

aus jungmädchentagen

ahne das lustige kind

hinter ernsthaften gebärden

erinnere schlaftrunkene körperwärme

morgentaublicke heublumenhaar

male mir auf vergilbten fotos

deine liebe aus

sehe dich älter werden

an der größe der kinder

kritzle schmetterlingsflügel

um sorgsam verheimlichte falten

verziere mit dem klang deiner stimme

die gesten tröstender hände

wort für wort

buchstabiere ich dich

zwischen den zeilen

lese ich mich*)

Du kleine Handvoll Buch. Liebesgedichte in feinstem Leder, mit rotem Bändchen, wie ich dich liebe, weißt du nicht, du wunderlichstes Buch der Bücher, aufmerksam hab‘ ich’s gelesen: wenig Blätter Freuden, ganze Hefte Leiden.**

Eine Diskette, eine Videokassette werd ich nie gernhaben können. Wie oft aber hab ich schon liebevoll und behutsam ein Buch in die Hand genommen, es zärtlich betrachtet, versonnen schon beim Lesen des Titels die schönsten Stellen erinnert, mich an der bibliophilen Ausstattung erfreut, die Spuren des Alters diskret übersehend, hab ich an meinen aufmerksamen Unterstreichungen und Notizen – merken heißt ja kennzeichnen – mich wiedererkannt oder mich über meine bleiernen Bemerkungen gewundert. An den Büchern kann ein Mann erkennen, wie viele Geliebte er haben möchte, wie viele Seiten er entdecken und lesen könnte.

Die Geschichte von dem Manne ist zu erzählen, der täglich von seiner fernen Geliebten einen Brief bekam. Eine getreue Chronistin war sie, berichtete ihm von der von ihr ersonnenen Anleitung zum Basteln eines Hampelmannes, erzählte ihm haargenau die Kuschelgeschichte für ihre Daumenlutscher – wir haben es mit einer Krankenschwester auf einer Kinderstation zu tun – trug ihm ihre diffizilen Überlegungen von der Kombination des preisgünstigen Einkaufens mit dem Erwerb möglichst naturnaher Lebensmittel vor, vertraute ihm ihre Zweifel an ob der Ungespritztheit der Äpfel, die sie von einem Bauern erwarb und verschonte ihn auch nicht vor der Gebrauchsanweisung zum Färben ihrer Haare mit Henna. In jedem Brief aber kam sie auf einen ihrer Körperteile zu sprechen, erst so nebenhin, bald aber ermuntert, ja aufgefordert von ihrem Geliebten. Ihren schwanengleichen Hals,ihr loreleymäßiges Haar, ihre himbeerfarbenen Brustwarzen beschrieb sie ihm ausführlich, ihre züngelnde Zunge ein andermal, ihre schlanken Beine – wir wollen über ihre abgegriffenen Vergleiche und schmückenden Beiwörter taktvoll hinwegsehen – die nach streichelnden Liebkosungen hungrige Haut, ihre ozeanischen Augen verstand sie ihm begehrenswert zu beschreiben, ihren pulsierenden Venushügel nicht weniger detailreich. Der arme Mann verzehrte sich vor Sehnsucht und ermunterte sie zu offenherziger Preisgabe der bis dahin sorgsam gehüteten intimen Bezirke ihres Körpers. Bald waren ihm die bloßen Schilderungen zu wenig Anregung, er bat sie, dies und jenes zu versuchen, sich in Experimenten zu ergehen und ihm die Wirkungen und Empfindungen dabei ausführlich zu protokollieren, bis er, immer fordernder werdend, ihre Gedanken bis in die kleinsten Regungen für sich beanspruchte. Die Frau begann erst unmerklich zu kränkeln, entschuldigte sich bald wegen häufiger Unpäßlichkeiten, bleich und ausgezehrt erschien sie ihrer Umgebung, wegen andauernder Schwächeanfälle mußte sie nach geraumer Zeit ihren Dienst in der Klinik aufgeben, apathisch dämmerte sie schließlich ihrem gänzlichen Verfalle entgegen. Wir können wohl nicht umhin zu bemerken, daß es der Postbote war, der sie Brief für Brief dem unersättlichen Manne zugetragen hatte, bis nichts mehr von ihr blieb denn ein Häufchen Elend.

Mein Haupt bette ich auf deine Briefe bis sie zerbröseln.

Ein nasses Höschen oder eine Erektion sind weniger Erweis für die erotisierenden Wirkung der Sprache als die spontane Heilung durch einen Außerordentlichen:

sein sturmwort bläht

das in sich gesunkene seelenzelt

gestocktes blut wallt auf

kaskaden sprühender fontänen

zeugen einen regenbogen

über die berstenden angstmauern

springt der erlöste mensch

Fred Feuerstein meißelt für Wilma seine Liebesschwüre auf Granit für immer und ewig. Ich brauch nur das Speichern zu vergessen oder ich stoße an die Ausschalttaste meines Laptops, schon ist es geschehen, die Liebe geht ihrer Wege.

Ungewollt schwängern dich Worte und Bilder. In ein Kondom eingesackt schwämmst du am besten durch des Zeitgeists Fluten, keine unfruchtbaren Tage gibt es, keine Menopause und aufpassen nützt nichts.

Das Kleingedruckte lesen sie meist nicht, unterschreiben die Verträge in ihrer schönsten Sonntagsschrift, die Sonderangebote locken, das schöne Geschenkspapier blendet, nicht umsonst spricht man von Mogelpackungen und so manch einfältig liebend Paar kennt nicht einmal die Gebrauchsanweisung.

Segen und Fluch, die magische Kraft des Wortes: was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben, basta.

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*) Karl Mittlinger, unter dem eis überleben die fische, Styria 1989, S. 20;

**)Wie ich dich liebe, weißt du nicht, Liebesgedichte, Fretz & Wasmuth, Zürich 1987.: Elise Oelsner S.7; Buch der Liebe von J.W.von Goethe, S.9;

(1993) Die Sprache hat wie der Wein einen Körper. Über die Leidenschaft des Lesens. Eine männlich-aphoristische Annäherung in: bakeb informationen, Bundesarbeitsgemeinschaft für Kath. Erwachsenenbildung in Österreich 4/93, 21-23;

Gegen den Strich kämmen  

Lyrik heute 

Über den Satz, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne (Theodor W. Adorno), darf man sich nicht hinwegschwindeln, will man nach der Shoa über Lyrik nachdenken. Natürlich wurden nach 1945 Gedichte geschrieben und die Gedichte von Nelly Sachs, Paul Celan, Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann, Christine Lavant, Rose Ausländer, Reiner Kunze, Ilse Aichinger, Hans Magnus Enzensberger, Ernst Jandl … um nur einige zu nennen, gehören zu den wichtigsten kulturellen Gütern unserer Zeit, aber auch Brigitte Oleschinski, Norbert Hummelt, und Oswald Egger … gehören gelesen, auch wenn es vielleicht mit einmal Lesen nicht getan ist. Adorno ist wohl so zu interpretieren, dass sich die Welt nach dem Grauen des nationalsozialistischen Terrors nicht mehr reimt. Ein Grundverdacht gegen die Lyrik regt sich aber schon viel früher, Heinrich Heine schreibt in seinem Vorwort zum Buch der Lieder: Es will mich bedünken, als sei in schönen Versen allzu viel gelogen worden, und die Wahrheit scheue sich in metrischen Gewanden zu erscheinen. (Peter von Matt, Die verdächtige Pracht, 37)

Was Lyrik wirklich ist, lässt sich nicht in einen einfachen Satz fassen. Waren ursprünglich Texte gemeint, die zur Lyra gesungen wurden, so trat in der Romantik das verinnerlichende Empfinden von äußerer Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Reim, Versmaß, Strophe, Verdichtung, Metapher waren die wichtigsten Elemente. Zeitgenössische Gedichte leben von den Bildern und den Anspielungen, von der visiblen Struktur, vom Rhythmus. Kaum mehr vom Reim.

Zu einfach machen es sich jene, die wie ehedem ihre individuellen Empfindungen angesichts der Jahreszeiten in Reime gießen, gewogen und zu leicht befunden wird das rückwärts gewandte Trauern um eine gute alte Zeit. Auf die Gedichte in Mundart möchte ich nicht eingehen, zu leicht gerät hier die Auseinandersetzung damit in ein Lächerlichmachen.

Kunstwerke entbergen ein Stück Wahrheit, entreißen es dem Fluss des Vergessens, wie dies das griechische Wort für Wahrheit (aletheia) nahe legt.

Gedichte wollten in der Vergangenheit schön sein. Schönsein allein aber genügt nicht mehr, oder es genügt schon, wenn es in der tieferen Bedeutung Schönes gar nicht gibt, das nicht auch wahr ist.

Wahrheit aber ist nicht immer schön, das ist die Krise des Gedichtes oder die Krise jener, die Gedichte so lesen wollen, wie sie gelesen wurden in den Zeiten vor dem Blick in den Abgrund.

Dass es gesagt sei: Gedichte sollen geschrieben werden, weil sie gut geeignet sind, innere Stimmungen auszudrücken. Aber sie mögen dann in die Schreibtischlade gesperrt werden, wenn sie der menschlichen Gemeinschaft nichts Neues zu vermelden haben. Dass die Gesetze des Marktes die Lyrik aus den Buchhandlungen gefegt haben, liegt zum großen Teil auch daran, dass sie gewogen und die Mehrheit für zu leicht gefunden wurde.

Eine Ingeborg Bachmann würde auch heute entdeckt werden.

Dass Gedichte heute auf Unverständnis stoßen, liegt oftmals daran, dass sie sich hermetisch geben, dass sie nur von Menschen verstanden werden, die zu den Bildern und auch zu Bildung im klassischen Sinn Zugang haben. Das ist aber nicht anders als in der Malerei der Barockzeit, hier sieht man Frauen, Männer und irgendwelche Fabelwesen abgebildet, wer die darin verborgenen Götter- und Heldengeschichten und die damit verbundenen Allegorien nicht kennt, vermag vielleicht schöne, üppige Nackte und waffenstarrende Muskelmänner zu entziffern, einen Zugang zu diesen „Schinken“ bleibt verwehrt.

Romane beschreiben bis in die kleinsten Regungen, entwerfen Seelengemälde und versuchen die Geheimnisse des Lebens so darzustellen, dass in den Lesenden Filme ablaufen. Gedichte verkürzen auf das Wesentliche, kleiden es in ein Bild.

Der Sukkus eines Romans lässt sich in einem einzigen Satz, den eine Romanfigur vielleicht so nebenbei sagt, darstellen. „Bist du glücklich, fragt er sie. Ich zähle die Abschiede zusammen, antwortet sie und ihre Augen füllen sich mit Tränen“.

Ich zähle die Abschiede

auf deine Frage

ob ich glücklich bin.

So würde möglicherweise in einem Gedicht diese Frage beantwortet werden, ohne die Tränen in den Augen, denn Lyrik möchte viel offen lassen, möchte die Lesenden in die Antwort auf die Frage einbeziehen.

Genau genommen ist die Lyrik die literarische Gattung der Gegenwart. Das Erzählen ist zu langatmig in einer Zeit, in der die Beiträge in den Medien immer kürzer werden – müssen, die Verantwortlichen meinen den Konsumenten nicht mehr als eine dreiviertel Minute zumuten zu können, auch diese womöglich noch mit Musik untermalt und durch Bilder aufgefettet. Aber es gibt einen Haken dabei: Lyrik will nicht erklären, Lyrik will sich in unserer Hirngeografie im großen Bilderozean tummeln.

Aber weit besser als theoretisch darüber zu philosophieren, ist ein Gedicht vorzustellen, das sich mit dem Schaffen eines Gedichtes beschäftigt:

Ein Gedicht

Ein Gedicht, aus Worten gemacht.

Wo kommen die Worte her?

Aus den Fugen wie Asseln,

Aus dem Maistrauch wie Blüten,

Aus dem Feuer wie Pfiffe,

Was mir zufällt, nehm ich

Es zu kämmen gegen den Strich,

Es zu paaren widernatürlich,

Es nackt zu scheren,

In Lauge zu waschen

Mein Wort.

Meine Taube, mein Fremdling,

Von den Lippen zerrissen,

Vom Atem gestoßen,

In den Flugsand geschrieben

Mit meinesgleichen

Mit seinesgleichen

Zeile für Zeile,

Meine eigene Wüste

Zeile für Zeile

Mein Paradies.

(Marie Luise von Kaschnitz, aus dem Sammelband „Überallnie“)

Ich meine, es wäre schade, darüber viele Worte zu machen, so entstehen Gedichte, aus einem Einfall, einer Eingebung, aus kreativem Umgang mit dem Einfall, verbunden mit handwerklichem Können (6-5-4-2-4, die Anzahl der Verse in den Strophen), vielleicht meint die Taube den Geist, der über den Wassern schwebt oder sich ausgießt über die Poetin.

Lyrik erschließt sich nicht unbedingt jenen, die sie verstehen wollen. Sie will umworben, immer wieder gehört, gelesen auch auswendig gelernt werden. Gleichsam von selbst wird sich die Spreu vom Weizen trennen und einige Gedichte werden bleiben und getreu durchs Leben begleiten. Es lohnt sich, die Suche zu beginnen oder fortzusetzen!

(2006)