martin gutl

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Als Nachlassverwalter des 1994 verstorbenen Priesters, Dichters und Rektor des Bildungshauses Mariatrost ist es mir ein Anliegen, seine Gedichte und Gebete im Bewusstsein zu halten. Ich verweise auf den von mir herausgegebenen Auswahlband seiner schönsten Texte „In vielen Herzen verankert“ (Styria 2014, 3. Auflage).
Vor der Veröffentlichung von Texten Martin Gutl ersuche ich um Kontaktaufnahme zur Genehmigung der Abdruckerlaubnis:
karl.mittlinger@gmx.at
Hier ein kurzes Lebensbild:

Wenn Gott uns heimführt …

Dieser wohl bekannteste Psalm des vor 20 Jahren verstorbenen Priesterdichters Martin Gutl ist eine tröstliche Botschaft, die an den Gräbern von Verstorbenen landauf landab verkündet wird. Sie drückt abseits aller unverständlich gewordenen Theologie die Hoffnung auf ein paradiesisches Zusammenleben mit jenem Gott aus, der jenseits des schrecklichen Todesgrabens auf die Menschen wartet. Die Texte dieses Priesters strahlen auch heute noch unvermindert; ein Zeichen sind die vielen Abdruckanfragen von Verlagen, die mich als Nachlassverwalter immer wieder erreichen, dadurch werden die Texte über den ganzen Sprachraum gestreut und wenn eben jetzt die dritte Auflage des Auswahlbandes „In vielen Herzen verankert“ im Verlag Styria erscheint, so wird jenen, die Martin Gutl nicht mehr begegnet sind, erneut ein Zugang zu diesem ungewöhnlichen Menschen eröffnet.

Der 1942 in Mühldorf bei Feldbach (Stmk) geborene Sohn einer Kleinbauernfamilie geht den damals „klassischen“ Weg eines Priesters: Knabenseminar und Priesterseminar in Graz, Priesterweihe 1966, Kaplan in Mürzzuschlag. Der als unruhiger Geist bekannte Kaplan wird vom damaligen Studentenseelsorger Dr. Egon Kapellari als Mitarbeiter gerufen, später wird er Kaplan in der Grazer Innenstadt. Er fällt durch sein soziales Engagement auf, er ist Mitbegründer der Telefonseelsorge und agiert oft am Rande der Legalität, wenn es darum geht, Menschen in Notsituationen zu helfen. Aber das rastlose, ständige Helfen-Wollen laugt ihn aus. Er spürt, dass er sich verändern muss, er tritt in das Zisterzienserkloster Rein bei Graz ein. Aber Frater Emmanuel findet nicht, was er gesucht hat. Er lässt sich als Pfarrer in das obersteirische St. Peter ob Judenburg versetzen und auch das ist es nicht.

Erst die Stelle des Rektors des diözesanen Bildungshauses Mariatrost gibt ihm, was er suchte: frei von Verwaltungsagenden kann er Vorträge, Kurse und Gesprächsrunden leiten. In spirituellen Impulsen kann er weitergeben, was er erfahren, meditiert und erbetet hat. Schon in der Zeit als Studentenseelsorger beginnt er zu schreiben. Im Laufe seines Lebens erscheinen ein Dutzend Bücher. Der neue, ganz ungewohnte Ton, die unmittelbar zugängliche Sprache und vor allem sein Gottesbild sind es, die Zuhörende und Lesende faszinieren. Da spricht und schreibt einer von einem lebensbejahenden Gott, der nicht straft und kein kleinlicher Buchhalter ist. Wie Gott ist, erfahren die Menschen durch ihn, alle Unglücklichen, Verlassenen, Enttäuschten, die Suicidgefährdeten und an den Rand Gedrängten, aber auch jene, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind. Alle, wirklich alle haben in Gott einen Helfer in der Not, das ist seine Botschaft, die er mit dem Einsatz seines Lebens den Menschen näher bringen will. Weit über 100.000 Bücher werden verkauft und zeitweise wird er als Star herumgereicht. Er kommt an, weil er bei den Menschen angekommen ist. Aber als Priester, nicht als Psychotherapeut. Ohne therapeutische Distanz. Er ist ein Ergriffener, ein angreifbarer, berührbarer Mensch, das will er sein, Tag und Nacht verfügbar. Und die Menschen kommen zuhauf und saugen ihn aus, bis er nicht mehr kann, bis sein Körper reagiert.

Diagnose Hypophysentumor. Er feiert sein 25jähriges Priesterjubiläum schon als Gezeichneter. Es bleiben ihm drei Jahre, 1994 wird er nach erfolgloser Operation und vergeblichen therapeutischen Maßnahmen friedlich sterben. Mit ihm stirbt einer jener Priester mit deutlichem Profil; sein Jahrgangskollege, der Priester, Maler, Schriftsteller und Gründer des Kulturzentrums bei den Minoriten, Josef Fink, ist der andere, er wird fünf Jahre später sterben. Beide sind unverwechselbare Persönlichkeiten in der steirischen Kirche, bis heute klafft eine Lücke. Was bleibt, sind Martin Gutls Texte.

Im jetzt neu aufgelegten Sammelband habe ich jene Texte versammelt, die mir als seine besten erscheinen. In neun Kapiteln, die vom Verlag mit stimmigen Bildern bereichert wurden, wird ein Bogen von stärker autobiographischen Texten über seine zermürbenden Begegnungen mit menschlichem Leid hin zu tiefen mystischen Erfahrungen gespannt. Es sind fast immer Dialoge mit Gott. Niemals entsteht der Eindruck von Selbstgesprächen oder stummen Monologen, zu lebendig, zu selbstverständlich ist ihm das Du, auch wenn ihm die Fragen bleiben und er auf dem Aschenhaufen sitzt wie Hiob. Aber Hiob beginnt zu tanzen,

…bis seine kleine Form in Stücke brach,

bis er als Ton, endgültig frei,

in unendliche Räume

fortschwingen konnte.

(159).

Es sind seine Bilder, die unmittelbar berühren, sie kommen aus seinem kindlichen Gottvertrauen, sie sind nicht geläutert durch hohe Theologie, dadurch aber auch nicht verkopft und spröde.

Ich möchte mit Dir, lieber Gott,

zwischen zwei Wäldern

auf schmalem Weg gehen.

Morgennebel, taunasses Gras,

und hinter den Bäumen

beginnt die Sonne zu leuchten

(83).

Und als er sich aufschwingt zu einem Jesusbekenntnis, entspringt eine geradezu klassische Miniatur seiner Feder:

Jesus

Einer kam

und zeigte,

wie ein Blitzlicht,

einen Bruchteil

der Geschichte,

was ein Mensch

sein könnte

(135).

So geht es Seite um Seite. Schmerzliches Mitleiden, wie es das Wort griechische Sympathie nahelegt, wechselt mit reflektierten Erfahrungen aus solchen Begegnungen. Erlebnisse in der Natur

Aus der Sehnsucht der Raupe,

als Schmetterling

ihre Flügel ausbreiten zu dürfen,

aus Sehnsucht,

nur aus Sehnsucht

ist das Weltall aufgebaut

(178)

und tiefes Eindringen in die Botschaft der Bibel lassen in diesem „extrovertierten Mystiker“, so möchte ich ihn nennen, einen Menschen erkennen, der sagen konnte:

Beten heißt:

sich von den Engeln

die Flügel ausborgen

(127)

Das Gebet ist ihm geblieben, auch in der Krankheit zum Tode. Als Gott ihn heimbrachte aus den Tagen der Wanderschaft, wusste er:

… das wird ein Fest sein!

Ein Fest ohne Ende!

(195)

Karl Mittlinger

Rektor Martin Gutl hat zusammen mit mir 10 Jahre das Bildungshaus Mariatrost geleitet.

(Dieser Beitrag erschien in DIE FURCHE 13/27. März 2014, S. 14)

Beitrag zum 80. Geburtstag am 28. April 2022

Martin Gutl:
Frage die Zugvögel nach ihrer Heimat

DIE FURCHE ● 17, Seite 9; 28.April 2022

„Ich will verstehen können,
was nicht zu verstehen ist.
Im Schweigen finde ich
eher den Sinn der Geschichte
als im Reden.“

Martin Gutl

Am 28. April wäre Martin Gutl 80  ­Jahre alt geworden. Erinnerung an ­einen ­Priester und Dichter, der sich in ­gedichteter Sprache Gott zu nähern suchte und auf diese Weise auch mit ihm haderte.

Von Karl Mittlinger

Vor 80 Jahren, am 28.April 1942, wird in Mühldorf bei Feldbach (Steiermark) der spätere Priester und Dichter Martin Gutl in kleinbäuerliche Verhältnisse hineingeboren, er besucht das Bischöfliche Knabenseminar in Graz, nach der Matura studiert er Theologie und wird 1966 zum Priester geweiht. Sein erster Gedichtband erscheint 1973, es werden ein Dutzend weitere folgen, die Verkaufszahlen überschreiten weit die 100.000er-Marke.

Martin Gutl wirkt als Kaplan im obersteirischen Mürzzuschlag und in der Grazer Stadtpfarre, als Studentenseelsorger in Graz. Er zieht sich, dem Impuls folgend, ein Mönch zu werden, in das Zisterzienserkloster Rein-Hohenfurt zurück, nach kurzer Zeit geht er wieder in die Seelsorge und wird Pfarrer in St. Peter ob Judenburg, sein Weg führt ihn schließlich in das Bildungshaus Mariatrost, wo er die letzten zehn Jahre seines Lebens als geistlicher Rektor seinen Platz als theologischer Referent und spiritueller Begleiter findet, er stirbt am 20. August 1994 und ist auf dem Friedhof Mariatrost in Graz begraben.

Diese nüchterne Aufzählung gibt in keiner Weise wieder, was er für die vielen Menschen bedeutete, die seinen Predigten und Vorträgen lauschten, gibt nicht wieder, in welche Abgründe er blickte und wie vielen Menschen er Halt und Stütze war. Seine Texte legen auch ein Vierteljahrhundert oder eine Generation später Zeugnis von diesem Menschen ab, den sein pastoraler Impetus an die äußersten Grenzen des Menschseins trieb, er ist Gast in den Quartieren der Außenseiter, wird zu Menschen „auf der Brücke“ gerufen und ist vielen der einzige Bezugspunkt zur Kirche.

(An dieser Stelle sei an meinen ausführlicheren Lebenslauf im Nachwort des Buches „In vielen Herzen verankert. Seine schönsten Texte“ (Verlag Styria 1996 und weitere drei Auflagen) verwiesen, die Seitenzahlen bei den hier zitierten Texten beziehen sich auf diese Ausgabe.)

Gebete wie Gedichte

Der Priester Martin Gutl lebt trotz vieler Zweifel in seiner religiösen, katholischen Umwelt. Als junger Kaplan gehört er zu jenen Priestern, die sich den Menschen ohne Scheu nähern und in der Zeit nach dem II. Vatikanischen Konzil (1963–1965) weit die Fenster in die Welt öffnen; die Texte des Dichters Martin Gutl sind Meditationen, innere Monologe, die er aus den Begegnungen heraus mit seinem Gott führt.
Wo immer man in seinen Texten blättert, man stößt auf die Gottesfrage. Der fragende Mensch – und er war ein Musterbeispiel dafür – steht vor einer Wand, besser vor einem Abgrund und kann nicht weiter. Er hat nur die Möglichkeit, über die Mauer zu springen (wie in Psalm 18, den jeder Kleriker oftmals betet), oder sich in den Abgrund fallen zu lassen – in die Hand Gottes:

Die Warum-Fragen engen mich ein
und verwirren mich.
O Gott, ich merke:
Meine Warum-Fragen führen ins Nichts.
Ich bete zu Dir! Erbarme dich meiner!
Hilf mir, von den Fragen loszukommen
und mich in Deine Hände fallen zu lassen.
Ich weiß, o Gott,
der Stolz hält mich ab,
mich fallen zu lassen.
Ich will erklären, verstehen,
will Fragen stellen,
wo es keine
Antwort gibt.
Ich will verstehen können,
was nicht zu verstehen ist.
Im Schweigen finde ich
eher den Sinn der Geschichte
als im Reden.
(63)

Gott stellt er niemals infrage. Aber sein aufgeklärter Verstand hat ein Problem mit ihm. Wieso alles Unglück, warum ist die Welt nicht verändert trotz der Auferstehung, warum, warum.

Mit Gott ins Gespräch treten

Er steigt nicht aus dem religiösen Kontext, der ihn von Kindesbeinen an umgibt. Er ringt mit seinem Gott sein Leben lang. Das umfassende religiöse System mit seinen Sinnerklärungen, die Frage, warum Gott das alles zulässt, die uralte Theodizee-Frage, lässt ihn nicht los, er kann und will sie nicht wegschieben, weil sein Leben dann sinnlos würde.
Seine Texte sind dazu ein Lesebuch.

Ich will verstehen können,
was nicht zu verstehen ist.
Im Schweigen finde ich
eher den Sinn der Geschichte
als im Reden.

Martin Gutl

Sie sind aber vor allem Gebete. Beten heißt, mit Gott ins Gespräch treten, und er lebt im ständigen Dialog mit Gott, der für Nichtreligiöse als Selbstgespräch, als innerer Monolog erlebt wird. Aber genau da liegt der Schlüssel seines Glaubens: Selbstgespräch und Gebet zu Gott lassen sich nicht trennen, Gott ist es, der sich in ihm verbirgt (133).

Er sitzt Unbekannten in der Eisenbahn gegenüber und betet für sie, er schleppt eine Trinkerin in ihr Kellerverlies und zündet für sie eine Kerze an:
Von Haus zu Haus wandern / mit den Augen eines Glaubenden. // (41) Alles wird ihm zum Gebet. Beten heißt: / sich von den Engeln / Flügel ausborgen. // (126)

Martin Gutls Bücher erleiden das Schicksal vieler „religiöser“ Autorinnen und Autoren, die professionelle Kritik in den säkularen Medien schiebt religiöse Texte weit von sich – in vielen Fällen genügen diese auch wirklich nicht den Kriterien, mit denen zeitgemäße Lyrik gemessen wird. Er ist in diesem Sinn ein zu spät Geborener. Gerade in dieser Zeit, in der eine Flut spirituell-esoterischer Auslassungen den Buchmarkt überschwemmt, sind seine bilder- und metaphernreichen Texte geradezu nüchtern, erinnern aber auch an das Ringen der christlichen Mystikerinnen und Mystiker des Abendlandes, die aus dem biblischen Fundus ihre Kraft schöpfen.

Der Text „Du strömendes Du“ verdeutlicht in ganz besonderer Weise diese mystische Verflech­tung seines Lebens mit der Frage nach Gott:

Wie Tau auf den Gräsern
liegst Du auf meinen Gedanken.
Wie ein Morgen breitest Du Dich aus
über meine Tiefen.
Wie ein Abend hüllst Du uns ein
in Dein Schweigen,
Du bleibendes Antlitz
hinter unseren flüchtigen Blicken,
Du strömendes Du hinter meiner Maske.
Du Ozean in den Augen der Guten,
Du Friede in den Händen der Liebenden,
Du reiches, fließendes,
unaufhaltsames, unerschöpfliches Du!
Du helles, Du dunkles Du!
Du überdachst mich mit dem Zelt Deines Alls.
Du birgst mich,
Du erziehst mich zur Weite,
indem Du mich aus dem Paradies vertreibst
Du hast mich aus dem Nest geworfen.
Einen unruhigen Geist hast Du
in meinen Lehm gehaucht.
Du lässt mich nicht ruhen.
Wie Abraham
drängst Du mich aus Ur in Chaldäa.
Jahrzehnte werden vergehen
bis Licht und Dunkel ge
eint sind in mir,
wie sie eins sind in Dir. (110)

Es ist die Natur mit all ihrer Schönheit, mit ihrer unerschöpflichen Fülle und Kraft, die für ihn zur Metapher für das Göttliche wird, und am Ende seines Lebens, als ein unoperabler Hypophysentumor seinen Lebenskreis einschränkt, wächst sein Glaube in die Sphäre des vertrauenden Kindes hinein, und sein Meisterstück gelingt ihm:

Hinter den Horizonten
spielten die Engel
auf den Harfen des Salomo.
Die Propheten tanzten
und die Heiligen sangen
das Lied vom tanzenden Hiob,
der Himmel und Erde einschloss
und nicht anders konnte,
als fortwährend tanzen,
bis seine kleine Form in Stücke brach,
bis er als Ton, endgültig frei,
in unendliche Räume
fortschwingen konnte.
(158)

Sein bekanntester und beliebtester Text, angeregt durch den Psalm 126, ist: „Er führt uns heim“ (194), dieser wird bei Trauergottesdiensten und Gebetsabenden für Verstorbene immer wieder gebetet und drückt jene Hoffnung aus, die mit Gott verbunden ist, mit jenem Urgrund des Lebens, der nur mehr in den äußersten Grenzsituationen ins Bewusstsein geholt wird.

Tanze, Adam, tanze, Eva!

Zum Schluss sei noch sein wichtigster Text vorgestellt, jenes kleine Bekenntnis, das den Glauben aller Christinnen und Christen bündelt:

Jesus
Einer kam
und zeigte,
wie ein Blitzlicht,
einen Bruchteil
der Geschichte,
was ein Mensch
sein könnte.
(134)

Die Texte Martin Gutls sind es wert, gelesen zu werden. Sie können Wege in das Innere erschließen, dorthin, wo Gottesbegegnung möglich sein kann. Nicht nur für Trauerfeiern, auch für andere Gottesdienste finden sich Gebete und Texte, die an Lebenssituationen anknüpfen, die Mut und Zuversicht wecken und veraltete, unbrauchbare Gottesbilder in den Hintergrund treten lassen.

Tanze, Adam,
tanze, Eva,
tanze, o Mensch,
denn du bist frei!
(152)

Der Autor ist Theologe und war von 1979 bis 2007 Direktor des Bildungshauses Mariatrost in Graz, Wegbegleiter und Nachlassverwalter von Rektor Martin Gutl.

Martin Gutl

© Styria

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Buch

In vielen Herzen verankert

Ausgewählte Texte
Von Martin Gutl,
Hg. von Karl Mittlinger.
Styria 2020
240 S., geb.,
€ 19,99